Erasmus+ Kurs in Helsinki, Finnland

Introduction to the Finnish Education Model
Erasmus+-Kurs, Helsinki – 8.7.- 13.7.2024

Seit vielen Jahren schneiden die Finnen in den PISA-Studien sehr gut oder gut ab- und das in einem Schulsystem, das auf eintöniges Pauken von Wissen oder obligatorische kostenpflichtige Nachhilfe am Nachmittag verzichtet.
Wie und warum es in Finnland so gut funktioniert, wollte ich gerne genauer wissen und habe dazu einen einwöchigen Kurs in Helsinki besucht.

Wir waren insgesamt 19 Teilnehmende aus Deutschland, Frankreich, Ungarn, Italien, Spanien und der Slowakei. Diese multinationale Teilnehmerschaft war ein großes Plus, denn so konnte ich nicht nur unser Schulsystem mit dem finnischen vergleichen, sondern habe zu vielen Aspekten interessante Hintergründe aus anderen europäischen Staaten erhalten. Kostprobe gefällig? In ALLEN Staaten ist die Smartphone-Nutzung der SuS während des Schulvormittags ein großes Problem, und ALLE Lehrkräfte warten sehnsüchtig auf gesetzliche Regelungen hierzu.

Schwerpunkte meiner Beobachtungen

Das finnische Schulsystem

Insgesamt ist das finnische Schulsystem durch eine Mischung von egalitären und individualistischen Aspekten gekennzeichnet- was zunächst widersprüchlich klingt, aber eine interessante Mischung darstellt. Diese beiden Pole finden sich in vielen Elementen des Schulsystems.
Das finnische Schulsystem gliedert sich in eine 6jährige Grundschule, eine 3jährige Mittelstufe (Kl.7-9) und eine dreijährige Oberstufe. Grund- und Mittelschule sind als Gesamtschulen konzipiert, und besucht wird die Schule, die der Wohnadresse am nächsten liegt. [Als ich nachfragte, ob das so funktioniert oder ob nicht Eltern versuchen würden, ihre Kinder an bestimmten mutmaßlich besseren Schulen anzumelden, war die Reaktion unserer Dozentin Unverständnis- ihr war nicht klar, wieso man das machen sollte, weil doch die Schulen alle räumlich und personell von gleicher „Ausstattung“ seien!].

Das Prinzip von „gleichen Chancen für alle Kinder“, das unsere Dozentin mehrfach betonte, äußert sich auch darin, dass alle SuS (seit 1948!) eine kostenlose warme Schulmahlzeit bekommen. Wandertage werden ebenso vom Staat bezahlt, und Klassenfahrten zum Teil auch. Die Schule ist allerdings keine Ganztagsschule- der Schultag endet in der Regel in allen Jahrgängen so wie bei uns. Hier fragten fast alle Kursteilnehmerinnen nach, wie die Kinderbetreuung von Berufstätigen geregelt sei. Unsere Dozentin erklärte, dass nachunterrichtliche Betreuung höchstens für Erst- und Zweitklässler vorgesehen sei- finnischen Kindern werde zugetraut, sich, nachdem sie in der Schule gegessen haben, am Nachmittag selbst zu beschäftigen, bis die Eltern von der Arbeit kommen!

Alle SuS bekommen selbstverständlich digitale Endgeräte zur Verfügung gestellt, die sie ab der Mittelstufe auch mit nach Hause nehmen dürfen. Der Leistungsgedanke spielt ab der 9. Klasse eine Rolle: die Noten, die die SuS hier erreichen, sind entscheidend für die Aufnahme in eine Oberstufenschule ihrer Wahl.

Oberstufe und Abitur

Die Oberstufenschulen bieten sehr unterschiedliche Programme an. Diese Schulen werden von den SuS gezielt angewählt, und die Schulen wählen die SuS aus, die sie aufnehmen. Entscheidend sind die Noten zum Ende der Mittelstufenschule., also der 9.Klassenstufe. In der Oberstufe findet zum ersten Mal eine Diversifizierung statt. Die SuS haben die Wahl zwischen einem akademisch orientierten und einem berufsbildenden Profil. Innerhalb dieser Profile bieten die Schulen dann nochmal mögliche Spezialisierungen an. Der Besuch der Oberstufe ist auf drei Jahre ausgelegt, aber sie kann auch in zwei oder vier Jahren absolviert werden. Sie ist grundsätzlich in Semestern und jahrgangsübergreifend ausgelegt. Die SuS sind sehr frei in der Wahl, welchen Kurs sie wann belegen- so kann z.B. „Spanisch I“ in 10.1 und „Spanisch II“ in 11.1 belegt werden, aber es ist auch möglich, schon in 10.2. mit Spanisch weiterzumachen. Das kann in der Praxis dazu führen, dass die Kurse unterschiedlich groß sind. Während in der Grundschule 20 Kinder in einer Klasse sind und in der Mittelstufe 16 (!), können es in der Oberstufe auch schon einmal 35 SuS sein (wobei der Mittelwert deutlich niedriger liegt). Für die Meldung zum finnischen Abitur muss eine Mindestzahl an Kursen aus einem weiten Spektrum an Angeboten erfolgreich belegt worden sein.
Das finnische Abitur wird in mindestens 4 Fächern abgelegt, wobei das erste die Muttersprache (also Finnisch oder Schwedisch) darstellt. Die weiteren 3 Fächer müssen die zweite Landessprache (also Schwedisch oder Finnisch), eine weitere Fremdsprache, Mathematik oder ein Fach aus dem Bereich Naturwissenschaften oder Gesellschaftswissenschaften sein. Die Prüfungen sind schriftliche nationale Zentralprüfungen, die zu einem der zwei pro Schuljahr angebotenen Termine abgelegt werden oder verteilt werden können. Es ist auch möglich, schon im zweiten Jahr der Oberstufe Prüfungsteile abzulegen. Die finnischen SuS haben also im Oberstufensystem eine große Flexibilität sowohl in der fachlichen Ausrichtung als auch in ihrem Lerntempo.

Digitalisierung und Leseförderung

Sowohl der akademische als auch ein berufsbildender Abschluss ermöglichen den Besuch von Universitäten bzw. Fachhochschulen. Das System ist hier durchlässig- unter bestimmten Bedingungen können auch Absolventen des jeweils anderen Zweigs an der akademischen Einrichtung ihrer Wahl studieren. Eine Promotion ist allerdings an den universitären Abschluss gebunden.
Ein weiterer Aspekt, der mich interessiert hat, ist die Nutzung der digitalen Medien in finnischen Schulen. Anders als Dänemark oder Schweden setzt Finnland diese zwar durchgehend im Unterricht ein, aber nicht ausschließlich. In der Grundschule wird vorrangig mit Buch, Papier und Stift gearbeitet. In der Mittelstufe werden die SuS dann verstärkt an das Arbeiten mit dem Laptop (keine Tablets!) herangeführt. Aber auch hier und in der Oberstufe entscheiden die Lehrkräfte je nach Thema oder Aufgabe, ob mit oder ohne digitale Endgeräte gearbeitet werden soll. In Finnland soll in Kürze ein Gesetz verabschiedet werden, das die Smartphones aus den Schulen verbannt. Neben der Recherche, dem Verfassen von Aufsätzen oder der Erarbeitung von Präsentationen werden die digitalen Medien auch zur Leseförderung genutzt. Die Schulen haben Abonnements für E-Books, sodass für die Schüler auch ohne große Bibliothek eine große Anzahl an Lektüren zur Verfügung steht. In der Mittel- und Oberstufe dürfen die SuS pro Jahr aus einer großen Zahl von Werken individuell wählen (die sie übrigens auch als gedrucktes Buch lesen dürfen!). Die Überprüfung findet dann sowohl digital (analog zu Antolin) als auch klassisch statt (wie z.B. mithilfe einer Kreativaufgabe wie dem entwerfen eines fiktiven Buchkapitels o.ä.). Im Gegensatz zu dieser Individualisierung ist der Unterricht an sich wiederum stark geprägt von projektartigem Lernen, das häufig in Kleingruppen stattfindet.
Obwohl das Gehalt von finnischen Lehrkräften eher im unteren Durchschnitt liegt, ist das Lehramtsstudium sehr begehrt. Weniger als ein Viertel derjenigen, die sich beworben haben, wird zugelassen- das entspricht den Quoten für Jura oder Medizin. Das Studium besteht aus Bachelor und Master, wobei die Lehrkräfte in den Grundschulen später alle Fächer, die Lehrkräfte an den weiterführenden Schulen i.d.R. nur ein Fach unterrichten. Die Wochenstundenzahlen für Lehrkräfte sind niedriger als bei uns (und vielen anderen europäischen Ländern): an den Grundschulen unterrichten die Lehrkräfte 24 WST, an den weiterführenden Schulen, je nach Fach und persönlicher Präferenz, 16 (!)- 24 WST. Der Besuch von Fortbildungen ist freiwillig. Bis vor kurzem (genauer: bevor die rechts-konservativen Schwedendemokraten an der Regierung beteiligt wurden) konnten finnische Lehrkräfte sich bis zu 2 Jahren bei vollen Bezügen für Fortbildungen freistellen lassen. Wie es in Zukunft geregelt sein wird, ist noch offen. Dennoch: trotz der in vieler Hinsicht attraktiven Arbeitsbedingungen gibt es in Finnland zur Zeit Probleme, die Lehrkräfte dann auch in den Schulen zu halten. Der Schulalltag ist auch dort anstrengender geworden, die sozialen Probleme sind nicht anders als in Deutschland auch, und dazu kommt, dass finnische Lehrkräfte sich als Nicht-Beamte flexibler auf dem Arbeitsmarkt bewegen und höhere Gehälter anderswo anziehend wirken.

Transversale Kompetenz und positive Pädagogik

Zwei wichtige Prinzipien für den Unterricht in finnischen Schulen haben wir vertieft in meinem Kurs behandelt: die transversalen (also nicht-fachgebundenen) Kompetenzen und die positive Pädagogik. Als transversale Kompetenzen sieht das nationale Curriculum neben „Denken und Lernen“ auch „Kulturelle Kompetenz“, „Selbstkompetenz“ (im Hinblick auf die Bewältigung des täglichen Lebens), „Multiliteralität“, „Digitale Kompetenz“ und „Partizipation“. Dies findet seinen Ausdruck im „phenomenon-based learning“, bei dem die Lernenden sich einem Phänomen (gerne aus der Alltagswelt) fächerübergreifend widmen. Idealerweise wird auch die Fragestellung von den SuS entwickelt. Alle finnischen Schulen müssen pro Jahr mindestens ein solches Projekt durchführen, es gibt aber auch Schulen, die diese Projekte ganzjährig (neben dem klassischen Fachunterricht) durchführen. Der Lernprozess (inhaltlich und organisatorisch) steht dabei im Zentrum, das Ergebnis ist zweitrangig, was einen Unterschied zur klassischen Projektarbeit darstellt. Eine Ausrichtung dieser Projekte sind solche, die sich an STEAM orientieren- dabei werden „Science, Technology, Engineering, Art, und Mathematik“ verbunden. Wir haben ein Projekt kennengelernt, bei dem in einer Mittelstufenschule ein möglichst energieeffizientes Haus entwickelt werden sollte, wobei Lehrkräfte aus Biologie, Geographie, Mathematik und Kunst mitgewirkt haben- sehr beindruckend!
Die Erkenntnisse der positiven Pädagogik werden durchgehend in finnischen Schulen genutzt. Im Sinne eines Spiralcurriculums werden dabei die verschiedenen Aspekte altersgerecht umgesetzt. Dies kann sowohl in Klassenleitungsstunden, wenn sie thematisch im Zentrum stehen, als auch im Fachunterricht, wenn sie begleitend von Lehrkräften genutzt werden, passieren.

Wie ist meine Woche in Finnland abgelaufen? Die Kurzversion
Ich bin am Tag vor Kursbeginn angereist und hatte mir eine Ferienwohnung in der Nähe der „European Teachers Academy“ gemietet. Mein Kurs fand von Montag bis Mittwoch und Freitag von 9-14 Uhr und am Donnerstag von 14 bis 19 Uhr statt. Die anderen Teilnehmenden kannte ich durch eine Padlet-Seite, auf der sich alle in der Woche davor kurz vorgestellt hatten. Außerdem hatte unsere Kursleitung im Vorfeld verschiedene Tipps zu Helsinki hochgeladen, wir vor und während der Woche gut nutzen konnten.
Nachdem am Montag zunächst alle teilnehmenden Lehrkräfte ihre Schulen mit einer kurzen Powerpoint-Präsentation vorgestellt hatten, startete das eigentliche Kursprogramm. Es fand im Wechsel von Vortrag und Gruppenarbeiten statt und wurde zusätzlich durch persönliche Erfahrungen der Dozentin und eines Schülerpraktikanten aufgelockert. Fast alle teilnehmenden Lehrkräfte waren offen und interessiert, sodass schon bald eine zum einen nette und bisweilen lustige, zum anderen auch sehr vertrauensvolle Atmosphäre herrschte. Im Nachhinein würde ich sagen, dass die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen aus dem europäischen Ausland (19 Teilnehmende aus sechs Ländern) mindestens so bereichernd war wie das eigentliche Thema des Kurses.

Die Themen waren:

  • das finnische Schulsystem (ein Überblick)
  • transversale Kompetenzen
  • STEAM education
  • positive Pädagogik in Theorie und Praxis
  • kulturelles Wissen

Die Kurssprache war Englisch – das war für mich natürlich kein Problem. Aber es sollte auch für Nicht-Anglisten kein Hindernis sein, einen Erasmus-Kurs zu besuchen. Auch die Lehrkräfte, deren Sprachkenntnisse deutlich geringer waren als meine, konnten die Inhalte meist gut verstehen und – noch viel wichtiger- legten schnell ihre Hemmungen ab, selbst zu sprechen und ggf. einfach nachzufragen. Da zur Zeit bei diesen Kursen nur die Teilnehmenden aus Irland native speaker sind, sind die anderen in der Mehrzahl – es ist also in diesen Kursen normal, die Sprache nicht perfekt zu beherrschen, sondern als lingua franca zu nutzen.
Das Kursprogramm beinhaltete auch eine Stadtführung am ersten Nachmittag sowie eine (freiwillige) Exkursion zu einer Museumsinsel am Samstag. Diese Exkursion wurde von der Direktorin der Helsinki English School durchgeführt, die dies ehrenamtlich (nur für Lehrergruppen!) in ihrer Freizeit im Sommer macht und uns die Insel gewissermaßen aus didaktischer Sicht präsentiert hat. Ein weiteres Highlight war die Besichtigung der „Oodi“-Bibliothek, einem fantastischen Ort im Zentrum, der neben Büchern viele weitere Möglichkeiten bietet, sich weiterzubilden und sich kostenlos in Gruppen oder alleine aufzuhalten. Wir haben über Tonstudios, Musikinstrumente, unterschiedlichste 3D-Drucker, Nähmaschinen, Spiele usw. gestaunt.
Die Nachmittage hatten wir so weitgehend zur freien Verfügung und haben in wechselnden Gruppen die Stadt besichtigt und uns untereinander gute Tipps weitergegeben. Einige haben ihre kulturellen Erfahrungen in der Sauna weiter vertieft, andere beim Schwimmen in der Ostsee oder beim Besuch der berühmten Cafés von Helsinki.